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Auf der Suche nach Averroës

Fundamentalisten, deutsche Sufis und andere Vexierbilder

“Er schrieb mit sicherer Gelassenheit, von rechts nach links; seine Gewandtheit im Aufstellen von Syllogismen und im Ausspinnen weitläufiger Paragraphen hinderte ihn nicht, die kühle Tiefe des Hauses, das ihn umgab, wohltuend zu empfinden.” 



So lautet der Beginn von Jorge Luis Borges’ Geschichte “Averroës auf der Suche”. Der arabische Arzt und Philosoph Ibn Ruschd, bei uns Averroës genannt, sitzt in seinem Haus in Córdoba, jener Stadt, von der es heißt, sie habe bereits im 10. Jahrhundert eine halbe bis eine Million Einwohner gezählt, habe über 80 000 Werkstätten und Geschäfte, 900 öffentliche Bäder, 300 Moscheen und 50 Krankenhäuser besessen.  Hier fließen die Geistesblüten von Okzident und Orient zusammen und kulminieren in einem Jahrhundert des Aufschwungs, das wenig später der Zerstörungswut der Reconquista zum Opfer fallen wird. Averroës also sitzt in seinem Garten und arbeitet an seinem Werk Tahafut-ul-Tahafut (=Zerstörung der Zerstörung), das die Erwiderung auf das  Tahafut-ul-falasifa (=Zerstörung der Philosophie)  des Mystikers Al-Ghazali darstellt. Ein leichtes Unbehagen überkommt ihn, nicht wegen der Auseinandersetzung mit Al-Ghazali, sondern wegen eines Problems, das Averroës mit seinem Aristoteles-Kommentar hat, es sind die zwei Worte “Komödie” und “Tragödie” aus der Aristotelischen Poetik, die niemandem in der islamischen Welt etwas sagen.

Wie der Zufall es will, gerät Averroës unwissentlich in den Bannkreis der Wahrheit: bei einem Abendessen mit dem berühmten Reisenden Abulcásim Al-Ashari berichtet dieser von einem eigenartigen, bemalten Holzhaus in China, in dem maskierte Gestalten eine Geschichte aufführten, ein Theaterstück also. Keiner der Anwesenden kann sich einen Reim darauf machen, auch der Reisende selbst nicht.

Borges’ Geschichte ist natürlich ein poetischer Reflex auf die Kant’sche Dichotomie von den  blinden Anschauungen und den leeren Begriffen : Averroës, der nur die Worte kennt, aber kein Bild damit verbindet, muss ebenso in seinem Verständnis scheitern wie der Reisende, der sich allein auf seine Sinneswahrnehmung stützen kann, das, was geschieht, aber nicht zu deuten vermag. Borges bedient sich für diese literarische Fiktion der Tatsache, dass es in der islamischen Welt verpönt ist, Menschen und Tiere darzustellen.  Bei aller Fortschrittlichkeit des damaligen islamisch-philosophischen Denkens fräste diese religiöse Vorgabe eine kulturelle Lücke.

In heutigen Termini ist das eine Erzählung über die Notwendigkeit von Transferprozessen, die hier Begriff und Anschauung zusammen gebracht, zu einer gegenseitigen Ergänzung der Wissenskontexte geführt hätten. Kulturtransfer, wie er sich im Córdoba des 12. Jahrhundert zumindest für eine Zeitlang ereignet hat, ist

“als dynamischer Prozeß zu betrachten, der drei Komponenten miteinander verbindet, und zwar 1. die Ausgangskultur, 2. die Vermittlungsinstanz, und 3. die Zielkultur. Zu hinterfragen sind die Objekte, Praktiken, Texte und Diskurse, die aus der jeweiligen Ausgangskultur übernommen werden. Den zweiten Bereich bildet die Untersuchung der Rolle und Funktion von Vermittlerfiguren und Vermittlungsinstanzen (Übersetzer, Verleger, Wissenschaftler, Universitäten, Medien, Verlage etc.) (...) Im Zusammenhang mit der Zielkultur stehen die Selektionsmodi ebenso wie die Formen der Aneignung und der produktiven Rezeption (Übersetzung, kulturelle Adaptionsformen, Formen der kreativen Rezeption, Nachahmung) im Mittelpunkt des Interesses."

Das islamische Andalusien ist ein - bislang historisch unikes - Sinnbild einer intellektuellen Durchmischung muslimischer und christlicher Traditionen, und Averroës  (1126-1198) ist Kristallisationspunkt dieses Brückenschlags. Er war zunächst als Arzt und Richter tätig, bis er 1169 vom Dichter Ibn Tufail, Verfasser des wirkungsmächtigen Sufi-Romans Hayy ibn Yaqzan (=Sohn des Wachsamen, d.h. Sohn Gottes), beim Kalifen Abu Yusuf Ya’qub eingeführt wurde. Dieser beauftragte Averroës mit der Abfassung des berühmten Aristoteles-Kommentars , der ausgesprochen folgenreich sein sollte.  Erst auf diesem Wege, nämlich in der arabischen Übersetzung, gefolgt von den Interpretationen Averroës’, gelangte die aristotelische Philosophie ins Bewusstsein des christlichen Europas. Die Wirkungsgeschichte dieses Werkes ist vielsagend: bei den Scholastikern stand Averroës’ Versuch, islamischen Glauben und Erkenntnisse der Philosophie in Einklang zu bringen, zunächst hoch im Kurs. Unter der Führung des niederländischen Philosophen Siger von Brabant formierte sich die Strömung des “Avërroismus”, er und seine Mitstreiter behaupteten, dass die philosophische Wahrheit unabhängig von kirchlichen Dogmen gelte. Das richtete sich gegen die Glaubensvorstellung Augustins, der gelehrt hatte, dass der Mensch sich bei der Suche nach der Wahrheit allein auf seinen Glauben stützen könne (Confessiones XIII, 20, 28 ). Damit waren Einheit und Vormachtstellung der römisch-katholischen Doktrin gefährdet, ein Dilemma, von dem erst Thomas von Aquin die Kirche befreite. Ihm gelang es, klerikale Glaubensgewissheiten und Vernunftseinsichten als gegenseitige Ergänzung zu erklären, einige theologische Wahrheiten, etwa Christi Wiedergeburt, erschlössen sich allein durch Offenbarung. Andere, etwa die Zusammensetzung von Dingen, seien empirisch zu entschlüsseln (universale ut natura in particularibus - ut intentio abstracta in intellectu). Die Existenz Gottes dagegen sei sowohl durch die Vernunft als auch durch Offenbarung einsichtig.

Damit hatte der Mohr seine Schuldigkeit getan: Averroës, vordem als Vermittler und Interpret des aristotelischen Rationalismus nützlich, war jetzt überflüssig geworden - Claus Leggewie weist auf einige exemplarische Bilddarstellungen hin, unter anderem eine Altartafel des italienischen Malers Traini in St. Catarina zu Pisa: “Sie zeigt den Triumph des heiligen Thomas von Aquin, des bedeutendsten Theologen und Philosophen des europäischen Mittelalters, über Averroës, und zwar in einer ziemlich drastischen Form: Averroës windet sich wie ein Wurm vor dem Titanen der Scholastik.”
Auch im eigenen Lande, dem er die griechische Philosophie ebenso entscheidend nahe gebracht hatte, war Averroës kein Glück beschieden. Die schon bei Borges erwähnte Auseinandersetzung mit dem philosophischen Mystiker Al-Ghazali (1059-1111), “eine arabische Variante des Universalienstreits” , hatte für ihn fatale Folgen. Al-Ghazali hatte sich gegen zwei berühmte arabische Denker gewandt: Al-Farabi (875-950) und Ibn Sina (=Avicenna) (980-1037), die versucht hatten, aristotelische und neuplatonische Philosophie miteinander zu verbinden. Al-Ghazali bekämpfte mit erkenntniskritischen Mitteln  alle Teile des griechischen Denkens, die seiner Meinung nach in Konflikt mit den Grundsätzen des Islams standen.  Averroës reagierte darauf mit seiner Schrift Zerstörung der Zerstörung (s.o.), in der er die grundsätzlichen Ziele von Religion und Philosophie sowie beider Interpretationsmethoden als identisch setzte. Das war den orthodoxen Vertretern der islamischen Gemeinde (fuqaha’) ein Dorn im Auge, 1195 angeklagt beim Kalifen, fiel er in Ungnade und wurde in den Ort Lucena bei Córdoba verbannt.

Seine Bücher, mit Ausnahme der naturwissenschaftlichen Schriften, wurden verbrannt. 1198 wurde er amnestiert und nach Marrakesch an den Hof des Kalifen gerufen, wo er kurz darauf starb. Nach Córdoba kehrte er erst als Leiche zurück, auch dies Kulturtransfer im buchstäblichen Sinne, denn - so erinnerte sich der große Sufigelehrte Ibn ‘Arabi - das Lasttier war zur Linken beladen mit Averroës’ sterblichen Überresten, zur Rechten mit seinen Büchern, seinem gesamten Werk. Ibn ’Arabi, der dieser Prozession als junger Mann beiwohnte, fragte sich bei diesem Anblick: “Wie gerne wüßte ich, ob er sein Leben als erfüllt ansah?”  

Was meint er damit? Klingen bei ihm Zweifel an, dass ein eher analytisch als spirituell ausgerichteter Geist wie Averroës die wahre Einsicht, den echten Frieden gefunden haben könnte? Vielleicht hebt er auch darauf ab, dass Averroës - tatsächlich wie in Borges’ Geschichte, allerdings aus anderen Gründen - bis zu einem gewissen Grade gescheitert war. Statt einer liberalen, rational fundierten Sicht des Islams, wie er sie vertrat, hatte eine orthodoxe Haltung obsiegt, mit Folgen nicht nur für sein eigenes Schicksal. Nein, auch die Sufis, mit denen Averroës sympathisierte, ohne sich ihnen selbst zugehörig zu fühlen , sahen sich in Andalusien nun offener Verfolgung ausgesetzt. Ibn ‘Arabi floh im selben Jahr nach Nordafrika.

Ist das bereits die Fratze des Islams, die uns hier begegnet? Hat sich der Fundamentalismus heutiger Tage schon viel früher manifestiert? Ist er womöglich doch eine logische Konsequenz aus einem kriegerischen Charakter der Religion selbst, wie uns seit dem 11. September 2001 besonders eine Aufsatz-Reihe im Merkur glauben machen will?  Dazu muss man sehen, dass schon die Wortprägung “Fundamentalismus” nicht auf einen islamistischen, sondern  auf einen christlichen Kontext zurück geht: ursprünglich bezeichnet der Begriff eine “strenggläubige Richtung der evangelischen Kirche in den USA gegen Bibelkritik und Naturwissenschaft; kompromissloses Beharren auf politischen oder religiösen Grundüberzeugungen”  (wie man das etwa beim gegenwärtigen US-Präsidenten [DAMALS: George Bush] beobachten kann). Und Rudolf Burger weist darauf hin, dass der Islam - anders als das Christentum - streng genommen nicht fundamentalistisch sein kann, weil er es seiner Natur nach immer schon ist.

Weder habe es jemals eine explizite Korankritik gegeben, noch eine wirkliche Trennung zwischen Staat und Kirche, daher gebe es für einen “Fundamentalismus” außerhalb dessen keinen echten Angriffspunkt: “Der Islam ist als Orthodoxie vor allem eine Orthopraxis, die das gesamte Leben bestimmt.”  Fundamentalisten in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen, als gewaltbereite oder gar terroristische Gruppen, die den “Gottesstaat” anstreben und “sich allein auf den militanten Aspekt des Heiligen Kampfes (Djihad)”  beziehen, haben sich erst unter dem Eindruck des anti-kolonialistischen Kampfes konstituieren können. Ein Vorläufer mag die “Mahdibewegung” im Sudan des 19. Jahrhunderts gewesen sein , die heutigen radikalen Islamisten dagegen gehen zurück auf die “Muslimbruderschaft” (gegründet erst 1928 in Al-Isma’iliya), deren Zentrum sich seit 1932 in Kairo befindet.  Hiervon spalteten sich verschiedene radikale Strömungen ab, für die sich besonders seit der islamistischen Revolution im Iran bei uns der Begriff “Fundamentalismus” eingebürgert hat. Es ist also ein von außen kommendes, ein von der westlichen Welt angeheftetes Etikett. Mit ihm geht der Transfer eines Begriffbildes einher, das, wie gesehen, auf westlichen Vorstellungen fußt.

Gerade vor diesem Hintergrund liefert ein Film des ägyptischen Regisseurs Youssef Chahine eine interessante Lesart des Problems, die wiederum Klaus Theweleit zu einer Fundamentalismus-Analyse aus ganz anderer Perspektive veranlasst. Der Film  “Das Schicksal” (1997) spielt in Córdoba um 1200 und sein Protagonist ist wiederum Averroes, Ibn Ruschd. Gezeigt wird das sinnenfrohe Leben im mittelalterlichen “melting pot” aus Mauren, Christen, Juden und Zigeunern, jedoch dunkle Mächte sind am Werk, islamische “Fundamentalisten”, die durch Ränke und Mord den liberalen Herrscher zu stürzen versuchen. Das gelingt ihnen schließlich, indem sie sich mit christlichen Fundamentalisten, spanischen und französischen Kreuzrittern, verbünden (die später bekanntlich, nicht im Film, aber in der Geschichte die muslimischen “Gotteskrieger” restlos von europäischem Boden jagten). Eine freie Bearbeitung des historischen Vorbilds, gewiss, und natürlich auf aktuelle Ereignisse gemünzt. Theweleit nämlich sieht darin ein heute gängiges politisches Procedere: wie in Chahines Film würden systematisch  funktionierende soziale Gefüge destabilisiert,

“indem man die inneren Konfliktlagen, die zwischen verschiedenen Gruppierungen einer Gesellschaft immer auch bestehen, durch Intrigen anheizt und intensiviert, mit einem fundamentalistischen Orden eine militarisierte Gegenkraft aufbaut, nach und nach alle konfliktbereiten Teile bewaffnet, und schließlich zu ethnischen Pogromen bläst”.

Alsdann presche die “Kavallerie” (hier: Amerikaner und Europäer) heran, um das Schlimmste zu verhindern (d.h. ihre eigenen geo-strategischen Interessen zu wahren).  Nach diesem Modell seien, laut Theweleit, die Balkan-Kriege ebenso abgelaufen wie die “Befriedung” Afghanistans, im Kampf um das Kaspische Öl deute sich der nächste Konfliktherd bereits an.  Hinter fundamentalistischen Umtrieben kann also manches stecken, mitunter hegemoniale Absichten anderer, die im Verborgenen wirken, die Ursachen sind polymorph und nicht auf das Wesen des Islam zurück zu führen. Vielmehr ist dieser in der Vergangenheit wie jede andere monotheistische Religion einer beständigen Dialektik von orthodoxen und liberal-reformistischen Glaubenskonzeptionen à la Averroës ausgesetzt gewesen.
Geschichte ist stets ein Konstrukt, das jene schaffen, die sie schreiben, da sie herrschen. Trotz verschiedener anerkennender Stimmen  wurde das, was der Okzident dem arabischen Einfluss zu verdanken hatte, lange Zeit unter den Tisch gekehrt : seien es heilkundliche und naturwissenschaftliche Erkenntnisse, Erfindungen wie Kompass, Baumwolle, Pulver, Rechenbrett und Ziffern oder die Anfänge aufklärerischen Denkens. Noch in den 60er Jahren äußerte der Historiker und Orientalist Grunebaum an prominenter Stelle:

“Es läßt sich kaum sagen, dass das muslimische Spanien in seiner politisch gefestigten Zeit auf das übrige Europa eingewirkt habe; was der christliche Westen ihm verdankt, war antikes Erbe in Philosophie und Wisssenschaft, islamisch neu durchdacht und arabisch formuliert, das von 12. Jahrhundert an, gefiltert in den wieder christlich gewordenen Zentren - zumal Toledo, dem Sitz umfassender Übersetzungsarbeit -, auf lateinisch zugänglich wurde.”  

Wenn solche offensichtlichen Residuen und Übernahmen islamisch-maurischer Kultur schon herunter gespielt wurden, wie sehr gilt das dann für jenes, das bereits in den Ursprungsländern verketzert wurde, bzw. das sich selber der Heimlichkeit bediente, der Rätselsprachen, um nicht dem Bann der Religionswächter anheim zu fallen?

Die Rede ist vom Sufismus. Nicht erst seit dem Sieg der konservativen Theologen in Córdoba hat die islamische Mystik allzu große Deutlichkeit in ihren Aussprüchen vermieden. Aus zweierlei Gründen: zunächst einmal herrschte die Vorstellung, dass eine intime Kenntnis ihrer Gegenstände, die über die sichtbare Welt hinaus gehen, für Uneingeweihte nur verwirrend oder gar gefährlich sein könnte. Auch Averroës, der selber nicht den Weg des Sufis ging, äußerte sich dementsprechend.  Zum anderen hat das mit der inneren Methodik des Sufismus zu tun, der eine direkte Unterweisung durch einen Sufi-Lehrer zwingend vorsieht: “das akademische Studium des Sufismus ohne praktische Einübung und Erfahrung [ist] ein Sufismus ohne sein wesentliches Element.”  Sufis errichten keine festgefügten Systeme, sondern wirken durch das unmittelbare Beispiel. Dieser Gedanke der personalen Überlieferung (baraka) erklärt, wieso neben Textrelikten, Theorie und Lyrik aus Sufikreisen, auch eine Vielzahl von Anekdoten aus dem Leben berühmter Meister im Schwange ist, Geschichten von ihren Aussprüchen und Wundertaten, die häufig mündlich tradiert zu sein scheinen. Denn die Sufi-Lehrer strebten nicht nach historischer Wirksamkeit, nach der Bildung religiöser oder politischer Institutionen, sondern eine sufische Schule entstand, “wie jede andere natürliche Gegebenheit, um zu blühen und zu vergehen, nicht aber um Spuren mechanischer Rituale oder anthropologisch interessante Relikte zu hinterlassen.”

Um so erstaunlicher ist es, dass die “Kette der Überlieferung” nie abriss, dass die verborgenen Einflüsse des Sufitums bis heute auf esoterische oder seinsphilosophische Strömungen wirken, aber nur selten erkannt werden. Dennoch ist der Sufismus nicht okkult, allenfalls in dem Sinne, “daß er einen anderen Pfad verfolgt als den von Dogmen und Autoritäten als wahr bezeichneten. Sufismus behauptet, daß diese letztere Einstellung nur einen Teil, nur eine Phase der menschlichen Gesamtentwicklung darstellt.”
Entstanden ist der Sufismus aus frühen anachoretischen Bestrebungen, die Herkunft des Wortes ist umstritten, manche leiten es ab von suf, dem Wollgewand der Asketen , andere von safa (rein), Henry Corbins Lesart, gestützt auf eine Notiz aus dem 10. Jahrhundert (aber ebenfalls umstritten ), bezieht Sufi auf das griechische Sophia (Weisheit) , was ein weiteres Beispiel für den antiken Kulturtransfer zwischen Orient und Okzident, für die arabische Rezeption hellenistischer Ursprünge wäre. Sicher ist, dass der Sufismus in synkretistischer Manier Einflüsse aus griechischer Philosophie, Neo-Platonismus, indischen und christlichen Lehren amalgamiert und mit dem Islam in Einklang gebracht hat.  Möglicherweise ist der Name Sufi sogar schon vor Mohammed aufgekommen.

Er breitete sich dann mit dem Islam in der gesamten arabischen Welt aus, bis nach al-Andalus, nach Persien, Indien und Afrika. Die Sufi-Literatur war sehr vielgestaltig, umfasste Poesie, Lehrwerke, Kommentare klassischer Texte, aber auch Briefe und Sammlungen von Aussprüchen. Das älteste erhaltene Handbuch, Abu Nasr as-Sarradjs Kitab al-luma’ (=Schlaglichter über das Sufitum), stammt aus dem 10. Jahrhundert und enthält umfangreiche Beschreibungen sufischer Sitten, Erzählungen von magischen Worten und Handlungen berühmter Sufimeister.

Die beiden Schwerpunktthemen des Sufismus sind das Einheitsbekenntnis mit Gott (tauhid) und die Liebe als eigentliches Wesen Gottes.  Der Weg des Derwischs wurde mehr oder weniger genau systematisiert, verschiedene Zustände und Stationen des mystischen Pfades (tariqa) mussten durchschritten werden, bis die Schüler “zur absoluten ‘Zufriedenheit’ mit Gottes Ratschluss gelangt waren, nichts mehr erhoffend als Seine unerklärliche Gnadenmacht, ob sie sich nun in Gnade oder Züchtigung zeigte.”  Erst in der völligen Aufgabe eigenen Willens und Wollens war Gotterkenntnis möglich: “ihr Ziel war, ‘zu werden, wie sie waren, als sie nicht waren und nur Gott alleine bestand’, d.h. die Spaltung in Subjekt und Objekt aufzuheben und die göttliche Einheit zurückzukehren.”  Dort angekommen, stellt sich jener Zustand ein, den Meister Eckart (der von der arabischen Mystik kaum unberührt gewesen sein dürfte) als unio mystica bezeichnete, in den Worten des Sufis Rasa’il al-Djunaids: “Das Heraustreten aus der Enge der Spuren der Zeitlichkeit in die Weite des Hofes der Ewigkeit hinein.”

Spektakulärster Ausdruck der Liebeserfüllung in der Vereinigung mit Gott war die berühmte Sentenz ana’l-Haqq (= “Ich bin die  schöpferische Wahrheit”, d.h. auch: “Ich bin Gott”) des iranischen Mystikers Al-Halladsch, der dafür in Bagdad hingerichtet wurde. Bis heute ist er eine umstrittene, von der Orthodoxie abgelehnte Figur geblieben, die dennoch in der mündlichen Überlieferung des Volkes lebendig ist.  Europäische und islamische Forscher haben in seinen Ausprüchen frühe Anzeichen eines allumfassenden Pantheismus gesehen, andere betrachteten ihn gar als “heimlichen Christen” oder auch nur als gewöhnlichen Geisteskranken.  Jedenfalls ist er zum Vorbild ekstatischer Mystiker geworden, die “über die Verzückung nur noch die eine Wahrheit zu künden suchten.”  Sein Schüler Fariduddin ‘Attar berichtete: “Jemand fragte Halladsch: >>Was ist Liebe?<< Er antwortete: >>Du wirst es heute und morgen und übermorgen sehen.<< Und an diesem Tage hackten sie ihm die Hände und Füße ab, am nächsten Tage hängten sie ihn, und am dritten Tage gaben sie seine Asche in den Wind.”

Das Feld der literarischen Emanationen sufischer Lebensweisheit und Einsicht ist kaum zu überblicken. Ibn ‘Arabi, Shaykh al-Akbar (=der Größte Meister), soll allein über 400 Bücher geschrieben haben, von denen heute noch 150 erhalten, jedoch nur wenig in europäische Sprachen übersetzt sind.  Maulana Dschelaleddin Rumi, der nicht nur als großer Sufi, sondern auch als einer der wichtigsten Lyriker persischer Sprache gilt, hat an die 60 000 Lehrverse verfasst, von denen Annemarie Schimmel 1978 einige hundert in ihrer Monographie über den “Begründer des Ordens der Wirbelnden Derwische” übertragen hat. Ein zentrales Genre sufischer Poesie war die Liebeslyrik, besonders für Rumi, dem sie “Zentrum und Achse seiner Dichtung”  war, ja, erst seine tiefe platonische Hingebung zum Freund und Mystiker Schamseddin ließ ihn zum Dichter werden  und alle seine Verse dienen dazu, sie zu feiern, gilt sie ihm doch als Vorstufe zur wirklichen, himmlischen Liebe. Gleichzeitig muss die Dichtung vor der Größe ihres Gegenstands versagen:

“Die Feder eilt im Schreiben, kaum zu halten -
Kommt sie zur Liebe, muß sie gleich zerspalten.
Wie ich die Liebe auch erklären will -
Komm’ ich zur Liebe, schweig’ ich schamvoll still.
Erklärung mag erleuchten noch so sehr,
Doch Liebe ohne Zungen leuchtet mehr.

Ähnlich dichtete Ibn ‘Arabi im “Dolmetsch der Sehnsüchte”:

“Mein Herz ward fähig, jede Form zu tragen:
Gazellenweide, Kloster wohlgelehrt,
Ein Götzentempel, Kaaba eines Pilgers,
Der Tora Tafeln, der Koran geehrt:
Ich folg’ der Religion der Liebe, wo auch
Ihr Reittier zieht, hab’ ich mich hingekehrt!”  

Die geistige Liebe kann alles sein, alles werden, sie ist eine Verwirklichung des Atem Gottes und speist sich aus der unmittelbaren, ungeteilten Erfahrung der Dinge. Denn jede sinnliche Erfahrung ist zugleich Ausdruck des Göttlichen, das den Dingen inne wohnt. Auch bei Ibn ‘Arabi zeigt sich, verklausulierter als bei al-Halladsch, eine pantheistische Note. Ziel dieser Liebe ist letztlich den körperlichen Bereich zu transzendieren:

“Ich sprach zu jeder Gurrenden auf Zweigen
im Dickicht mit verzweigten Klageweisen:
Sie weint um den Gefährten ohne Tränen,
doch strömen mir vom Lid der Trauer Zähren -
Ich sprach zu ihr, nachdem die Augenlider
mit reichen Tränen meine Lage zeigten:
>>Weißt etwas du von denen, die ich liebe -
Ob sie im Zweiges-Schatten ruhen?<<”

Diesem etwas mysteriösen Text aus derselben Sammlung folgt ein Kommentar des Dichters, der ihm seinen eigentlichen Bedeutungsbereich zuweist - der Dialog, den das Gedicht inszeniert, richtet sich nicht etwa auf materielle Wesenheiten, sondern auf die Geisterwelt (die ohne Tränen weint), der Dichter befindet sich zwar auf derselben Wirklichkeitsstufe (der reinen Vergeistigung), ist zugleich aber weiter an seinen Körper gebunden (=er weint “materiell”, mit Tränen).

Er nutzt den Kontakt zu diesen “von der Welt der Natur getrennten Geister[n]” , um sich nach denen, die er liebt, zu erkundigen, ob es ihnen gut gehe in jener anderen Welt, zu der er bislang keinen Zugang hat (d.h. ob sie die Seligkeit erlangt haben). Sein Streben dient dem nämlichen Ziel, dem Erkennen der göttlichen Wahrheit, “so daß ich sehe, wie ich den Schleier von meinem Auge hebe und sehend bezeuge, was in meinem Sein ist!”  An dieser Stelle bezieht sich Ibn ‘Arabi explizit auf al-Halladschs Ausspruch ana’l-Haqq, allerdings in sehr diplomatischer Manier, indem er beiläufig die Frage aufwirft, ob dessen Weg der Einheitserfahrung  eventuell zur Erkenntnis des Ewigen führen könnte.
Andere Sufis waren noch vorsichtiger und entwickelten neben solchen hermetischen Anspielungen einen komplexen Code der Verschlüsselung, den Idries Schah ausführlich beschreibt.  Diese geheime Sprache ist “nicht nur ein System von Chiffren, welches verhindern soll, dass Uneingeweihte Dinge verstehen, auf die sie sich nicht richtig einstimmen können. Sie soll auch die Verbindung zu einer größeren Reatität herstellen, und so ist sie tatsächlich ungeheuer kompliziert.”  Auf einer ersten Ebene werden etwa den Buchstaben des arabischen Alphabets Ziffern zugewiesen, nun kann man zum Beispiel einen geheimen Buchtitel wählen, dessen Zahlenwerte addieren und das Ergebnis in Hunderter, Zehner und Einer aufteilen, woraus sich neue Codebuchstaben ergeben. Nach diesem Schlüssel sei etwa der Titel “Tausendundeine Nacht” gebildet , um den Eingeweihten darauf hinzuweisen, dass sich in diesem Buch verschlüsselte Lehrgeschichten der Sufis verbergen.

Auf Basis solcher kryptologischen Operationen untersucht Schah in irritierender (wenn auch wissenschaftlich nicht wirklich haltbarer) Weise die Einflusswege bestimmter Sufi-Geheimnisse in der abendländischen Geschichte. So weist er auf sprachliche Analogien und übereinstimmende Chiffrier-Systeme bei frühen Sufizirkeln und europäischen Geheimbünden hin, beispielsweise den “Carbonari” oder verschiedenen Freimaurerorganisatoren. Hier wie dort, behauptet Schah, ließen sich buchstaben- und zahlenmystische Codierungsverfahren belegen, die sich auch in der Emblematik und der Baukunst entsprechend abprägten. Er kommt zu dem Ergebnis:

“Diese Methode chiffrierter Chiffrierungen, der Gebrauch von Buchstaben und Zahlen, die nur der Eingeweihte versteht, ist charakteristisch für Derwisch-Dichter, und da man diesem Verfahren in beiden Systemen zu häufig begegnet, als daß man es noch als ein bloß zufälliges Zusammentreffen ansehen könnte, ist sein Gebrauch bei den Freimaurern und Sufis identisch.”

Ein Beispiel für die Übermittlung derartiger Botschaften ist übrigens unser oben gewähltes Motto: “Suche die Wahrheit, und es sei es auch in China.” Der verdeckte Sinn dieser scheinbaren Nonsens-Formel ist eine Beschreibung des Sufi-Weges, “China” nämlich steht - entschlüsselt - für die “Sammlung des Geistes”, ein Entcodierungsverfahren, dass im übrigen sowohl bei der arabischen als auch der persischen Version dieser Sentenz funktioniert.  Man mag das hanebüchen finden, aber ist es wirklich ein Zufall, dass der Reisende in Borges’ zitierter Geschichte ausgerechnet nach China gefahren ist? Dass er dort einen Abglanz der Wahrheit entdeckte?
Wie dem auch sei, die Parallel-Geschichte sich ergänzender Geheimbünde, die Schah in seinem einflussreichen Buch  entwirft, wird durch Reaktionen aktueller Freimaurerverbände gestützt. Ein anonymer Bruder der Freimaurer-Loge “Am Rauhen Stein” geht in einem via Internet verbreiteten Text den Gemeinsamkeiten sufischer Lehren mit dem eigenen Kodex nach und kommt zu dem abschließenden Ergebnis: “Parallelen zur Freimaurerei zeigen sich also viele, auf den verschiedensten Ebenen.”  Er steht mit seiner Meinung nicht allein, angeregt durch Schahs Ausführungen hat eine ganze Reihe heutiger Freimaurer oder ihnen nahestehender Gruppierungen sich dem Thema gewidmet, mit ähnlichem Resultat.

Es ist also nicht ausgemacht, wo überall sufische Rückstände sich nieder geschlagen haben mögen, welchen Anteil sie womöglich an der inneren Entwicklung der abendländischen Zivilisation besitzen könnten. Zumal auch bekanntere Beispiele dafür existieren, etwa der arabische Einfluss auf die Troubadour-Lyrik (von der Gottesminne zur Frauenverehrung ist der Weg letztlich nicht weit). Wolfram von Eschenbachs “Parzival” beruht nach dessen eigener Aussage auf einer arabischen Quelle, auch die Gralsvorstellung scheint auf eine Sufi-Idee ursprünglicher Reinheit zu verweisen.  Ja, nach Malkowski, sei selbst Dantes “Göttliche Komödie” die Bearbeitung eines arabischen Originals.  Sicher zu belegen ist der Einfluss sufischen Denkens auf Johann Wolfgang von Goethe (bekanntlich ebenfalls Freimaurer!), dessen “West-östlicher Divan” [1819] ausdrücklich davon zeugt: “Nord und West und Süd zersplittern/ Throne bersten, Reiche zittern,/ Flüchte du, im reinen Osten/ Patriarchenluft zu kosten,/ Unter Lieben, Trinken, Singen,/ Soll dich Chisers Quell verjüngen.”

Mit diesen Versen beginnt das Werk und sie verweisen bereits auf zentrale Sufi-Motive: den “reinen” Osten, das “Lieben”, die ekstatische Trunkenheit der Derwische, ihr meditativer Gesang, der ihnen dazu dient, in transzendente Zustände zu geraten. “Chisers Quell” - jener eigentümliche Kopfbegriff der Metapher bezeichnet den unsichtbaren und ewiglebenden Meister der Sufis , jenen khidr oder chadir, der - analog zum jüdischen Ahasver - stets auf der Wanderschaft ist und der Ibn ‘Arabi mehrfach in seinem Lebensweg erschienen war.  Es ist bekannt, wie intensiv sich Goethe mit dem Koran und den Schriften persischer und arabischer Lyriker auseinander setzte, neben Hafis unter anderem auch mit den mystischen Dichtern ‘Attar, Dschami, Nisami und Rumi. Letzterem widmete er ein eigenes Gedicht im “Divan”:

“Verweilst du in der Welt, sie flieht als Traum,
Du reisest, ein Geschick bestimmt den Raum;
Nicht Hitze, Kälte nicht vermagst du fest zu halten,
Und was dir blüht, sogleich wird es veralten.” (WA I, 6, S. 90)

Wie ähnlich klingen Rumis eigene Zeilen über die Vergänglichkeit des irdischen Seins, über die Flüchtigkeit diesseitiger Erfahrung:

“Bist du ein irdener Ball,
        fliegst du zum Himmel nicht auf;
Wenn du zerbrichst und wirst Staub,
        schwebst in die Lüfte du bald...
Bleibst du jedoch hier im Staub
        Jahre und Jahre hinfort,
Ort um Ort treibst du vorbei,
        Würfel in Spielers Gewalt (...)

In einem anderen Gedicht Rumis scheint bereits Goethes “Prometheus” anzuklingen, die Vertreibung vom Olymp der Götter: “Wir waren einstmals im Himmel,/ die Freunde der Engel wir einst -/ Dorthin führt jetzt wieder der Weg uns -/ den Heimatort suchten wir lang!”  Sollte dies keine unmittelbare Beeinflussung sein, so ist doch zumindest eine ähnliche Aussageabsicht zu diagnostizieren. Den starken Anteil des Ostens an der abendländischen Kultur leugnet Goethe jedenfalls nicht, für ihn ist beides sinnfällig ineinander verwoben, die Synthese als Ergebnis des erfolgten Transfers ist nicht mehr rückgängig zu machen:

“Wer sich selbst und andre kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Occident
Sind nicht mehr zu trennen.

Sinnig zwischen beiden Welten
Sich zu wiegen lass’ ich gelten;
Also zwischen Ost- und Westen
Sich bewegen, sei’s zum Besten!” (WA I, 6, S. 276)

Ist Goethe daher explizit ein Sufi gewesen, wie Malkowski insinuiert?  Oder wenigstens ein Muslim? Gewiss steht er dem Christentum äußerst kritisch gegenüber und schreibt, auf das Kruzifix gemünzt: “Mir willst du zum Gotte machen/ Solch ein Jammerbild am Holze!”. Seine Affinität zum Islam bringt er nicht nur im “Divan”, sondern auch an diversen anderen Stellen zum Ausdruck (z.B. in Briefen an Carlyle [WA IV, 41, S. 270], an Louise Adele Schopenhauer [WA IV, 49, S. 87] oder Zelter [WA IV, 33, S. 123] u.v.m.) Für den schottischen Sufi-Meister Schaikh ‘Abd al-Qadir al-Murabit ist das Grund genug zu der Annahme, “daß Europas größter Dichter und der Ruhm der deutschen Sprache und ihres geistigen Lebens gleichzeitig auch der erste Muslim des neuzeitlichen Europas ist” . Folglich tauft er ihn feierlich - im Auftrag der muslimischen Gemeinde von Weimar - rückwirkend auf den Namen Muhammad Johann Wolfgang von Goethe, ein Schelm, der Böses dabei denkt! Immerhin mag das als Beleg dessen gelten, dass Goethes Islam-Bild Akzeptanz bei heutigen Muslimen findet, eher als adäquat denn als verzerrend empfunden wird.

Das dürfte im Falle Friedrich Rückerts (1788-1866) nicht anders sein, denn der Orientalist und Dichter tat sich als einer der ersten adäquaten Übersetzer arabischer und persischer Lyrik hervor, so übertrug er Ghaselen Hafis’ und Dschamis, Dichtungen Saadis und Nisamis. Aus dieser intimen Kenntnis orientalischer und sufischer Lyrik resultierte sein eigenes Werk östlich inspirierter Dichtung, zunächst einmal eine Sammlung von 44 Ghaselen, die er 1820 unter dem Namen Dschelaluddin Rumis heraus brachte. 1823 folgten seine “Östlichen Rosen”, die gleich zu Beginn Goethes “Divan” ihren etwas holprigen Tribut entrichten: “Wollt ihr kosten/ Reinen Osten,/ Müßt ihr gehn von hier zum selben Manne,/ Der vom Westen/ Auch den besten/ Wein von jeher schenkt’ aus voller Kanne” . Auch sonst erschöpfen sich seine Verse in klischeebehafteter Adaption der orientalischen Originale: was in diesen verinnerlichte Metaphorik des Einheitsbekenntnisses und der Gottesliebe, wird bei Rückert zumeist verdinglicht. Wie bei Rumi durchziehen “Wein” und “Liebe” leitmotivisch seine Lyrik, sufische Symbole wie die “Rose” oder der “Mundschenk” werden erwähnt, aber alles bleibt bloßes Bild, es gibt keinen doppelten Boden, keine Transzendenz:

“Wenn ich eine Quelle wüßte,
Die von laut’rem Weine flösse,
Zu ihr zög’ ich in die Wüste,
Daß ich ungestört genösse.
Eine Hütte wollt’ ich bau’n,
So daß über ihre Schwelle
Flösse aller Wein der Quelle,
Ringsum baut’ ich einen Zaun.
Menschen sollten mir nicht kommen,
Mir den reinen Quell zu trüben,
Doch erlaubt’ ich’s, daß die frommen
Thiere zu mir her sich hüben [sic!]
Die Gazelle sollte springen,
Nachtigall den Gruß erwiedern,
Wenn ich trunken wollte singen
Stellen aus Hafisens Liedern.”

Die Zeilen verraten recht deutlich Rückerts verzerrtes Verständnis islamischer Mystik: der Wein-Quell in der Wüste ist ein Symbol für das Labsal der Wahrheitserfahrung, symptomatisch aber, dass er sie nicht teilen möchte. Trotz aller Verrrätselungsstrategien ist jedoch der Sufismus nicht exklusiv, sondern offen für diejenigen, die bereit sind, sich ernsthaft auf den Weg zu machen. Bei Rückert wird dieser enge Zusammenhalt von Erkennen und Weitergabe des Erkannten zugunsten eines individualistisch-schwelgerischen Naturempfindens aufgegeben, in eifersüchtiger Weise möchte der klassizistisch orientierte Europäer die Früchte des Wissens und der spirituellen Ekstase für sich behalten, was dem geselligen Charakter der Sufi-Lehre zutiefst wiederstrebt. An anderen Stellen kommt er der Wahrheit näher, etwa im Gedicht “Liebesandacht”:

“O sei in keinem Augenblick
Mein Herz! von Rausch und Liebe leer.
O wirf die Welt dir vom Genick,
Und deine Ichheit wirf ins Meer.
 (...)
Wenn du den Himmel hast in dir,
So ist dir Tod und Leben gleich. (...)”

Diese Ode an Hafis formuliert die Grundgedanken der sufischen Weltentsagung, sie mündet in der unmittelbaren Gotteseinigkeit, die sich über die Dualität von Tod und Leben erhebt, wie wir bei al-Halladsch gesehen haben (auch ihm hat Rückert übrigens einen Text gewidmet ).
Im Anschluss an Goethes “Divan” weihten sich auch andere Lyriker wie Platen, Daumer, Bodenstedt oder Stieglitz einer solchen orientalisierenden Dichtung, ja, es entstand eine regelrechte Manier daraus, die Heinrich Heine in seinem Gedicht “Oestliche Poeten” [1826] verspottete:

“Groß’merite ist es jetzo, nach Saadis Art zu girren,
Doch mir scheint’s égal gepudelt, ob wir östlich, westlich irren.
Sonsten sang, beym Modenscheine, Nachtigall seu Philomene;
Wenn jetzt Bülbül flötet, scheint es mir denn doch dieselbe Kehle.
Alter Dichter, Du gemahnst mich, als wie Hamelns Rattenfänger;
Pfeifst nach Morgen, und es folgen all die lieben, kleine Sänger.
Aus Bequemlichkeit verehren sie die Kühe frommer Inden,
Daß sie den Olympus mögen nächst in jedem Kuhstall finden.
Von den Früchten, die sie aus dem Gartenhain von Schiras stehlen,
Essen sie zu viel, die Armen, und vomiren dann Ghaselen.”  

Der “alte Dichter” ist natürlich Goethe, den Heine jedoch von seiner Kritik ausnahm, im Gegenteil: in der  “Romantischen Schule” lobte er den “West-östlichen Divan” in höchsten Tönen.  Auch Rückert wiederum, dessen “Östliche Rosen” der Gedichttitel persifliert, bezeichnete er an anderem Ort als “le magnifique Frédéric Ruckert” . Diese für Heine recht typische Ambivalenz hat ihren Grund, er selber hatte nur wenige Jahre zuvor ein romantisches Mauren-Drama, die Tragödie “Almansor”  [1821], publiziert, in der er sich nur allzu begeistert vom “edlen Maurenthum”  gezeigt hatte. Relativ distanzlos instrumentalisiert und verherrlicht er darin die Muslime, um Korruption und Verlogenheit der christlichen Herrscher zu konterkarieren.  Dieses überaus positive Bild des Islams und des “Morgenlands” durchzieht Heines gesamtes Werk, allerdings muss man sagen, dass er sich seiner beschönigenden Einschätzung durchaus bewusst war. Für Heine spielte der “reale Orient”, den er aus geographischen Veröffentlichungen seiner Zeit kannte , nur eine sekundäre Rolle, ihn interessierte “jener fabelhafte, abentheuerliche Orient (...), den wir aus Kreuzzügentradizionen und 1001 Nacht uns zusammengeträumt - ein real unrichtiger aber in der Idee richtiger, Poesie-Orient.”
Heine begreift den Osten also als Allegorie, er stellt “einfach den positiven Gegenpol zu seiner nördlich-abendländischen Heimat dar, und zwar in klimatisch-landschaftlicher und in geistig-idealistischer Hinsicht.”  Die islamische Mystik findet trotz vereinzelter Sufi-Begriffe im “Almansor” , trotz seiner Kenntnis sufischer Dichter wie Dschami, Saadi und Nisami  bei Heine keinen entscheidenden Niederschlag.

Seine (bewusst) subjektive Rezeption ist aber symptomatisch: Malkowski vermag eine Vielzahl von Persönlichkeiten der europäischen Zeitgeschichte zu nennen, die sich an irgendeiner Stelle, bei irgendeiner Gelegenheit positiv zum Sufitum oder zum Islam geäußert haben, ob es nun Dichter und Denker wie Montaigne, Pascal, Baudelaire, Rilke, Werfel, von Hoffmannsthal und Meyrink waren, Politiker wie Bismarck, Hammarskjöld und de Gaulle. Oder Maler und Galeristen wie Baselitz, Kiefer, Warhol, C.O. Paeffgen, Mary Bauermeister, Heiner Friedrich, Franz Dahlem. Dieses kontinuierliche Interesse an östlicher Religiösität und Denkungsart ist gewiss bemerkenswert und ein Beleg dafür, wie sehr sich islamische Traditionen in Europa manifestiert haben.

Aber nur zu oft - so steht zu vermuten - handelt es sich um eine oberflächliche und kurzzeitige Attraktion, angeregt durch die okkulten Ingredienzien des Sufitums, die vermeintliche Exotik und Farbenpracht der islamischen Alltagskultur.  Hollywoods opulente Filmproduktionen, die zu Dutzenden und Aberdutzenden Geschichten aus “Tausendundeine Nacht” adaptierten , mit ihren bunt wallenden Kostümen, den Pumphosen, Eunuchen und Haremstänzen, all das trug einen guten Teil mit bei zu einem “romantisch”-verkitschten Bild, das mit der sozialen, religiösen und kulturellen Realität der islamischen Länder nichts zu tun hat.
Diese mediale Projektion wurde in den letzten zwei Jahrzehnten sukzessive überwuchert von jenem anderen Vexierbild, dem der hasserfüllten Mullahs, der aufgebrachten und fanatisierten Massen, das unsere Fernsehnachrichten seit der Revolution in Teheran nicht müde werden, uns zu zelebrieren. Projektionen aber sind beide.
Borges’ Averroës-Geschichte endet auf eine abrupte und verblüffende Weise, der Protagonist betrachtet sich im Spiegel und hier reißt der Faden der Erzählung:

“Was seine Augen erblickten, weiß ich nicht, weil kein Geschichtsschreiber seine Gesichtszüge überliefert hat. Ich weiß nur, daß er jäh entschwand, wie von einem lichtlosen Feuerstrahl getroffen, und daß mit ihm das Haus und der unsichtbare Springbrunnen entschwanden und die Bücher, die Manuskripte, die Tauben und die vielen Sklavinnen und die zitternde mit dem roten Haar und Farach und Abulcásim und die Rosenbüsche und am Ende gar der Guadalquivir.”

Auch Borges kennt nicht mehr als den bloßen Namen, den Begriff, ihm fehlt die sinnliche Erfahrung, erst durch sie aber “werden uns Gegenstände  gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen” . Er weiß letztlich nicht, wer Averroës gewesen ist, was für ein Mensch, wie er aussah, wie er tatsächlich lebte, wie seine Welt, seine Umgebung beschaffen war.
Wieder so ein Sinnbild: “Averroës” - das ist der Araber und seine Kultur an sich, das historisch Fremde, die Möglichkeit zum Kontakt ist ausgelöscht worden, seit 1492 existiert nurmehr die Frontstellung, die Satelliten streuen bilaterale Zerrbilder über die Demarkationslinie.

Wie in Borges’ Geschichte, so ist uns allen das wahre Bild der islamischen Kultur zersprungen, ein Bild, das wir nie wirklich verstanden haben und noch immer nicht verstehen. Durch oktroyierte Kriege verblasst es immer mehr, die Gelegenheit zu Verständigung und wechselseitigem Transfer, sie verflüchtigt sich mit.


erstveröffentlicht in: Weimarer Beiträge, 50. Jg., 3/2004

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